Premiere: 15.01.2022
Elfriede Jelinek
Rechnitz (Der Würgeengel)
ca. 2 Stunden, keine Pause
Es können nicht alle Opfer sein!, jemand muß auch Täter sein wollen, bitte melden Sie sich, wir brauchen jeden Täter, den wir kriegen können, denn dann können wir uns selbst dazurechnen, ohne daß man es merkt, wir brauchen dringend Täter, zu denen auch wir gehören könnten, wenn wir uns etwas mehr Mühe gäben.
Rechnitz (Der Würgeengel)
In der Nacht zum Palmsonntag 1945 – kurz vor dem Einmarsch der Roten Armee – fand auf dem Schloss der Gräfin Margit Batthyány im burgenländischen Rechnitz ein Gefolgschaftsfest der lokalen NS-Prominenz statt. Zeitgleich wurden 180 jüdische Zwangsarbeiter in der Nähe des Schlosses erschossen – angeblich unter Beteiligung der Festgäste.
Bis heute konnten die Ereignisse dieser Nacht nicht vollständig geklärt werden. Die mutmaßlichen Haupttäter setzten sich ins Ausland ab, Zeugen wurden ermordet, die Bevölkerung schwieg. Noch immer ist das Massengrab unentdeckt. Nach anfänglicher Suche nach Tätern und Opfern wurde das Verbrechen schnell "aktiv vergessen". Elfriede Jelinek setzt mit ihrem Stück Rechnitz (Der Würgeengel) dem kollektiven Verschweigen und Verdrängen einen sprachgewaltigen und eindringlichen Text entgegen.
"Diese falsche und verlogene Unschuldigkeit Österreichs ist wirklich immer mein Thema gewesen, eigentlich in allen meinen Sachen. Ja, ich würde sagen, das ist mein Angelpunkt."
Im Zentrum steht die Figur der "Gräfin", atemberaubend gut und sehr beklemmend dargestellt von Sona MacDonald. Regisseurin Anna Bergmann hat die Textflut in vier Abschnitte gegliedert. Die artifizielle Inszenierung wird dem Text gerecht. Jelinek in der Josefstadt – am Ende laut bejubelt – wer hätte das vor ein paar Jahren für möglich gehalten?
(KURIER)
Im Zentrum von Bergmanns Inszenierung, steht Sona MacDonald als Gräfin. Sie ist ein Schreckgespenst, ein Totenvogel, eine Diva des Untergangs. Sie verkörpert die höllische Lust der Nazis, den Zusammenbruch ihres tausendjährigen Reiches zum flammenden Inferno zu gestalten, ebenso wie die Mittäterschaft der Künstler, denen Glanz wichtiger war als Gesinnung. In manchen Momenten erinnert der Abend an die Konzerte der Gruppe Laibach, die mit ähnlichen Codes spielen.
Rund um die Gräfin taumeln Menschen, die ein Bewusstsein für gut und böse längst verloren haben. Prägnant gibt etwa Robert Joseph Bartl einen betont unschuldigen Waffenmeister sowie den schlitzohrigen Politiker der Nachkriegszeit, in der man zwar nach den Opfern graben, aber keinesfalls etwas finden durfte. Die Gräber mussten von den entkräfteten Zwangsarbeitern selbst ausgehoben werden. Tamim Fattal gestaltet in so einer Grube berührend einen letzten Monolog.
Die Josefstadt und Jelinek - das könnte der Beginn einer wunderbaren Freundschaft gewesen sein.
(APA)
Keine Wiener Bühne geht mit der österreichischen Gegenwartsdramatik leidenschaftlicher um als die "Josefstadt". Der Schritt von Turrini, Bernhard, Mitterer und Kehlmann zu Elfriede Jelineks Textflächen ist dennoch ein gewaltiger. Er gelingt. Hier wird hoch emotionales Schauspielertheater gezeigt.
(Kronen Zeitung)
Eine stimmige Inszenierung mit komplexer Musikalität und eindrucksvollen Visualisierungen. Besonders beeindruckte Sona MacDonald als Gräfin in ihrer Rage, mehr aber noch in den stillen Momenten und vor allem bei ihren variantenreichen Gesangseinlagen. Ihre Mitspieler und Mitspielerinnen bewiesen in Mehrfachrollen, dass die Josefstadt ein tolles Ensemble hat.
(Presse)
Anna Bergmanns famose Jelinek-Inszenierung beginnt als Josefstädter Revue der Vampire – und schlägt leisere Töne an. Anna Bergmann hat eine Art Sprechmaschine entwickelt, die sich wie eine Trommel dreht (Bühne: Katharina Faltner). Transparente Plastikschürzen stürzen nieder, obszöne Oberförster (Robert Joseph Bartl) ballern blindlings in die Luft, während hinter dem Vorhang Menschen wie Vieh geschlachtet werden. Die nüchterne Botin (Elfriede Schüsseleder) betont ihre generelle Unzuständigkeit für Moralfragen. Jelinek hat nicht nur das schauerliche T. S. Eliot-Gedicht der Hollow Men in ihr Traktat eingearbeitet ("Wir sind die hohlen Männer, die Ausgestopften…"). Sie kommt vom Hölzchen aufs Stöckchen, und von diesem auf den Nietzsche. Sie erklärt in wenigen Sätzen das Kant’sche Konzept der individuellen Verantwortlichkeit für Makulatur: 200 Jahre Aufklärung werden gleichsam im Handstreich erledigt. Übrig bleiben die Tröstungen des Gesangs, zum Beispiel Der Freischütz, ein Geisterrezitativ aus MacDonalds herrlicher Kehle.
Die Nachgeborenen am Kugelgrill erfreuen sich an den Prospekten populistischer Parteien. Und werfen halbgare Würstchen in den Wiederaufbau-Staub. Sich selbst jagen diese Komplizen unausgesetzt Kugeln in den Kopf. Es nützt ihnen nichts. Sie fahren sogleich wieder auf in die vor medialem Geschwätz dröhnende Realität. Nur hinten, beinahe unbemerkt von so viel vampirischer Geschäftigkeit, schaufeln nackte Männer ihr eigenes Grab. Keine Macht der Welt kommt gegen das Schweigen von Rechnitz auf, auch nicht Jelineks beispiellose Sprachgewalt. Die Sprache "schweigt", wo sie "schwelgt". Während die Nobelpreisträgerin von der "Staffel" ("Schutz-Staffel") zur "Stafette" hetzt, gelangen Anna Bergmann und das famose Josefstadt-Ensemble zu einer Art Ruhe nach dem Sturm. Diese ist trügerisch, weil das Schweigen von Rechnitz unversöhnt weiterdröhnt.
(Der Standard)
Agiert wird intensiv und expressiv. Sona MacDonald, die brillante Performerin kann auch Oper. Zu "Wie nahte mir der Schlummer" und "Was gleicht wohl auf Erden dem Jägervergnügen" aus dem "Freischütz" kommt die Flinte zum Einsatz. Drei Notenzeilen, drei Mal Anlegen – KlickKnall. In einem fulminanten letzten Auftritt findet Sona MacDonald endlich ihre Sprechstimme, da steht das Schloss schon in Flammen, um Beweise zu vernichten, und der Daimler zur Flucht bereit. Die Jelinek lässt sie Euripides zitieren: "Oh, blutiger, unseliger Mond…" Dann die MacDonald auf großer Leinwand, sie wandert über den Rechnitzacker zum Kreuzstadl, unterwegs liest sie sterbliche Überreste der Opfer auf, es sind nur noch Knochenfragmente. Auf der Bühne bettet sie sie auf einen Tallit. Sie singt "El male rachamim", ein Gebet für Begräbnisse, Gemeuchelte der Shoa und dieser Zeiten auch Terroropfer. Welch eine Aufführung, welche ein eindringlicher Appell gegen kollektives Schweigen und Verdrängen!
(mottingers-meinung.at)
Effektvoller Auftakt: Mit "Zu Asche, zu Staub", dem Titelsong der Fernsehserie "Babylon Berlin" von Tom Tykwer, fängt der Theaterabend in der Josefstadt an. Sona MacDonald intoniert mit Verve den wuchtigen Soundtrack. Regisseurin Anna Bergmann verteilt den rollenfreien Monolog auf acht Akteure. Sona MacDonald stellt in giftgrüner Abendrobe die Gräfin dar, bis auf einen fulminanten Schlussmonolog, hat MacDonald während der zweistündigen Aufführung kaum Text - grandios etwa ihr beredtes Schweigen vor dem Mikrofon, als sie als Gräfin um ein Statement zur Tat gebeten wird. Stattdessen ist MacDonald für die Gesangsdarbietungen zuständig, die sie mit Bravour meistert. Im Gegensatz zum aufwühlenden Text inszeniert Regisseurin Anna Bergmann auffallend unaufgeregt. Die 43-Jährige bebildert den Text einfallsreich - von der Grillparty bis zum Grabschaufeln, von Sekt bis Bierdose - gelingen ihr weitgehend stimmige Umsetzungen, die den Text kolorieren, ohne ihn zu übertünchen. Eine elegant-unaufgeregte Jelinek-Inszenierung, die einem einiges zumutet, ohne je zu viel zu werden.
(Wiener Zeitung)
Eine gelungene Inszenierung zwischen Trash, Horror und einer Wirklichkeit, die gestaltet werden muss.
(Die Furche)
Gesonderte Erwähnung gebührt Robert Joseph Bartl für seine schauderbar nette Darstellung eines Jägers und eines österreichischen Nachkriegspolitikers – der Qualtinger ist da nicht weit.
(Kleine Zeitung)
Regie
Anna Bergmann
Bühnenbild
Katharina Faltner
Kostüme
Lane Schäfer
Musik
Moritz Nahold
Musik Mitarbeit
Heiko Schnurpel
Choreographie
Simon Eichenberger
Video
Sebastian Pircher
Dramaturgie
Barbara Nowotny
Licht
Manfred Grohs
Dramaturgieassistenz
Leonie Seibold
Botinnen und Boten
Michaela Klamminger
Sona MacDonald
Elfriede Schüsseleder
Robert Joseph Bartl
Tamim Fattal
Dominic Oley
Oliver Rosskopf
Götz Schulte