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Theater in der Josefstadt
Premiere: 06.10.2015

August Strindberg

Fräulein Julie

ca. 1 Stunde, 25 Minuten, keine Pause

Deutsch von Hansjörg Betschart

Oh, ich hasse und verabscheue Sie; zwischen uns ist Blut! Ich verfluche die Stunde, da ich Ihnen begegnete; ich verfluche den Augenblick, da meine Mutter mich empfing!
Fräulein Julie

Fräulein Julies Geschick habe ich mit einer ganzen Reihe von Faktoren begründet: mit der Grundlage der Mutter, der falschen Erziehung des Mädchens durch den Vater, dem eigenen Naturell, mehr noch mit der Feststimmung in der Mittsommernacht, der Abwesenheit des Vaters, der Beschäftigung mit den Tieren, den aufreizenden Einfluss des Tanzes, dem Dämmerlicht der Nacht, der starken, aphrodisischen Wirkung der Blumen, und schließlich dem Zufall, der die beiden in einem entlegenen Zimmer zusammentreibt, dazu kommt die Zudringlichkeit des erregten Mannes.

Das Problem des Aufstiegs und Falls, des Höheren und Niedrigeren, des Besseren oder Minderwertigeren, von Mann und Frau ist, war und wird von bleibendem Interesse sein.
August Strindberg, Vorwort zur Erstausgabe

Anna Bergmanns Strindberg-Inszenierung am Theater in der Josefstadt hat Hitpotenzial. Das Drama um die fatale Liaison einer hohen Tochter mit dem Diener umspannt hier mehrere Epochen und fasziniert in seiner hybriden Formgebung.
Das Theater in der Josefstadt ist in Fahrt. Nachdem der liebestolle Patriarch Clausen aus Gerhart Hauptmanns Vor Sonnenuntergang im September die Saisontür mit Bravour aufgestoßen hat, legt nun Regisseurin Anna Bergmann mit einer noch entflammteren Heldin nach. Es knistert im Gebälk, wenn August Strindberg Fräulein Julie (1888) die Schmauchspuren ihres hitzig kurzen Lebens durch den 90-minütigen Abend zieht.
Julie ist das Kind unglücklicher Eltern. Eine Tochter aus adeligem Haus, deren (bürgerliche) Mutter zeitlebens unter dem Joch das Gatten darbte und die ihrem Spross umso heftiger einbläute, nur ja nie von einem Mann abhängig zu werden. Vom Herrn Vater wurde Julie hingegen zum Sohn erkoren und ohne viel Federlesens in die Gepflogenheiten der Jagd und des häuslichen Schlachtens eingeführt. Wäre Fräulein Julie ein Jahrhundert später entstanden, so hätte sich das versehrte junge Frauenzimmer auch in die Indie-Musik flüchten und finstere Lieder über das Existieren zum Besten geben können.
Das tut Sona MacDonald in der Titelrolle auch, schwindelerregend betörend (à la Soap & Skin), aber nicht nur das. Die Inszenierung Bergmanns schießt wie ein akkurat gespitzter Pfeil aus dem 19. Jahrhundert in die Gegenwart.
Unstandesgemäß leutselig
Das in einer Mittsommernacht kulminierende Dilemma der hohen Tochter umfasst folgenden Tatbestand: Julie gibt sich beim Fest unstandesgemäß leutselig, tanzt mit dem Forstgehilfen und dient sich schließlich dem gebildeten und stattlichen Diener Jean (Florian Teichtmeister) an. Bergmann weitet diese heftige Verbindung zu einer kühlen, sadomasochistischen Liaison und folgt damit einer zeitgenössischen Lesart, wonach sich Julia als Frau offenbar als wertlos empfindet und sich zu Selbstverletzungen zwingt, sich also bestraft für ihr unzureichendes, aussichtsloses Dasein.
Die noch in historischen Kostümen (toll: Lane Schäfer) und nach Stummfilmmanier formstreng vollführten Avancen streifen in wenigen technischen Schachzügen (Bühne: Katharina Faltner) die Sepiafarben der Vergangenheit allmählich ab und gehören unversehens in die Jetztzeit.
In der Liebesnacht kommt ein Tutu aus dem Sternenhimmel gefahren und stülpt sich über das glückselige Mädchen, das mit Sona MacDonald eine famos vielschichtige Interpretin hat, die mit hoher, mal tiefer Stimme, mit perückenlosem Kopf oder mit wallender Milva-Mähne ihre komplexen Befindlichkeiten äußert. Hier geht es nicht um das tiefe Ausloten von Empfindungen, sehr wohl aber um die Mechanik der Gefühle, die schmerzhafte Rechnung, dass die Liebe (oder was man dafür hält) keine Erlösung verheißt.
Herr-Knecht-Verhältnis
Die Inszenierung zeigt die Äußerlichkeiten eines gefangenen Lebens, lässt deswegen aber nicht kalt. Sie verblüfft mit Witz (etwa einer hochneurotischen Sexszene), Verwandlungsfähigkeit - und Metaphysik. Denn Bergmann hat genau gelesen und viele Spielräume aufgetan, die in diesem "naturalistischen Trauerspiel" stecken: Das einzige, der armen Julie herzlich und ohne unangenehme Absichten zugetane Wesen ist ihr kleiner Zeisig. In der Josefstadt ist dieser Vogel zu einer Nebelkrähe vergrößert, der in einer zweiten Version außerhalb des Käfigs als Todesvogel existiert - in Gestalt des Sängers Jan Plewka. Ist es Zeit für Gefühle, so stimmen er und MacDonald in schmerzhaft schöne Duette ein (Musik: Hannes Gwisdek), oder sie schwingen gemeinsam auf einer Schaukel. Es wird in diesen Momenten vollkommen egal, welches Zeitalter ablesbar ist.
Auch Florian Teichtmeister gelingt eine die Jahrhunderte mühelos auf sich vereinende Dienerfigur; er zitiert die akkurate Verbeugung im Herr-Knecht-Verhältnis genauso prächtig wie die Geste eines Untergebenen, der samt verdrücktem Lächeln in Wahrheit die Oberhand behält. Bea Brocks als Köchin Kristine mit Vampirkontaktlinsen, die eigentliche Verlobte des Dieners, emanzipiert sich vom erdfarbenen Dienstboten aus Breughel-Gemälden zu einem selbstbewussten Zofengeschöpf mit Mordplan, eine von der Regie imaginierte Handlungsmöglichkeit.
Dieses Fräulein Julie hat Hitpotenzial.
(Der Standard)

Radikal. Jubel.
(Österreich)

Fabelhafte Schauspieler.
(NEWS)

Furios hebt diese Strindberg-Paraphrase als Stummfilm mit Musik und Übertiteln an. Mit den ersten gesprochenen Worten beginnt sich die Gewaltspirale unaufhaltsam zu drehen, rückt das Geschehen auch sprachlich immer mehr ins Heute. Deutlich angedeutete Fellatio- und Kopulationsszenen inklusive, das Blut fließt. Es wird zu Hard-Rock-Musik gesungen und gegrölt, der von Julie geliebten Nebelkrähe (als reales Vogel-Abbild agiert Jan Plewka) wird flott der Kopf abgehackt, und Jeans Verlobte Kristine (schrill: Bea Brocks) mutiert zu Julies jüngerem Ebenbild.
Das klingt alles verwirrend? Ist es auch! Denn Bergmann erzählt in Katharina Faltners drehbarem Küchenbühnenbild nicht eine, sondern mindestens 20 Geschichten. Das hat Tempo, das hat Kraft, auch Witz - letztlich verzettelt sich die Regie aber in ihrer Zeit-, Handlungs-, Sex- und Psychologiesprüngen. Dennoch: Das gesamte Unterfangen geht sich vielleicht nicht ganz aus, aber Bergmann will etwas, fordert Publikum wie Darsteller mutig heraus. Und diese Darsteller sind exzellent: Sona MacDonald legt ihre Julie irgendwo zwischen der Marquise Merteuil aus Heiner Müllers "Quartett", der Claire Zachanassian aus Dürrenmatts "Besuch der alten Dame" und einem in die Jahre gekommenen Ex-Punk-Girl an. MacDonald spielt mit vollem Körpereinsatz bis hin zur Selbstentäußerung und findet in dem brillanten Florian Teichtmeister einen Jean auf Augenhöhe. Einhelliger Jubel bei der Premiere.
(KURIER)

Eine bizarre Show von 80 Minuten, die zu Beginn bildmächtig überzeugt, dann aber vor lauter Lust an der Überdrehung die Wucht verliert: Julie (Sona MacDonald) ist eine ältere, hexenhafte Adelige, die dem jungen. schmierigen Diener Jean (Florian Teichtmeister) den Kopf verdreht. Beide gehen recht drastisch und sexuell explizit zur Sache, sie turnen sich durch die Szenen. Julie singt gelegentlich rockig bis punkig. Man könnte sich doch arrangieren in diesem Verhältnis, oder? Nein! Am Schluss stirbt nicht das Fräulein, sondern der Diener.
Recht viel Verfremdung also, zu der Jan Plewka als singender, tanzender Vogelmann ebenfalls beiträgt. Der beste Einfall kommt der Regie gleich zu Beginn. Hinter Glas sieht man auf der von Katharina Faltner gestalteten Bühne die Küche, in der das Stück spielt. Wie sich bald herausstellt, ist es ein drehbarer Guckkasten. Der Hit daran: ein großer Käfig mit beeindruckender, teuflischer Krähe. Erst dient der Bau, auf vergilbt getrimmt, als Projektionsfläche wie fürs Kino: Kein Wort fällt, stattdessen erklingt bedrohlich Thrillermusik (Hannes Gwisdek) wie bei Großmeister Alfred Hitchcock.
Wenn die Protagonisten nicht gerade schräg singen, bevorzugen sie einen expressionistischen Stil. So wird weit ausholend der Vogel geköpft. Ja, auch Symbolismus darf sein, mit Seilen, Schaukel, Sternenhimmel, surrealen Szenen. Jean muss Julie den Schuh küssen, er leckt ihn ab, fährt mit der Zunge höher hinauf. Julie revanchiert sich später mit Oralverkehr, die anschließende Sexszene ist recht explizit.
Die stärkste Entblößung offenbart dieses Fräulein, das reif aussieht, aber pubertär handelt, als es seinen blauen Pelzmantel abstreift. Überall am Körper hat sich Julie geritzt. "Anxious" steht auf dem Rücken, "Vergessen" auf dem Arm, auch ein paar geschickt platzierte Vulgaritäten gibt es. Man könnte sagen, das ist symptomatisch für dieses überladene Kammerspiel, das weniger auf den Text als auf Effekt vertraut. Vom beherzten Ensemble wird es allerdings kraftvoll, mit vollem physischem Einsatz, auf die Bühne gebracht - Leidenschaft und Aggression bei MacDonald, kühle Berechnung bei Teichtmeister, Mysteriöses bei Brocks und Plewka.
(Die Presse)

Strenges Kammerspiel
Aberwitzig überspannt: Anna Bergmann inszeniert Strindbergs Geschlechterkampf "Fräulein Julie" in der Josefstadt
Gewalt in Komik kippen zu lassen, das ist kein leichtes Unterfangen. Genau darin aber liegt die Stärke der jungen deutschen Regisseurin Anna Bergmann, die nun in der Josefstadt August Strindbergs Herrin-Knecht-Fantasie "Fräulein Julie" garantiert nicht jugendfrei inszeniert hat. Was wie ein perfekt getimter Stummfilm mit Hitchcock-Tonspur beginnt, steigert sich zu einem Psychokrieg zwischen dem Diener Jean (Florian Teichtmeister) und einer in die Jahre gekommenen Tochter aus gutem Hause, die aber noch immer wie ein trauriger Teenager empfindet und sich mit dem Messer ritzt (Sona MacDonald). Es sieht aberwitzig aus, wie Julie ihrem Geliebten den Finger abhackt, nachdem er ihre Krähe getötet hat, exzentrisch, welche Forderungen sie im Rahmen einer Sexszene stellt ("Stopf mit die Strumpfhose in den Mund!").
(Profil)

Das starke Ensemble meistert die inszenatorische Überambitioniertheit mit viel Körpereinsatz.
Herrin und Diener beginnen eine Affäre, in Folge entbrennt ein Macht- und Geschlechterkampf, die Ehre ist dahin und die Katastrophe perfekt. Ein Strickmuster, das in der Literatur des 19. Jahrhunderts mehr als gut funktioniert hat, hält einer Neubewertung im Heute nur selten stand. Und so versucht auch die deutsche Regisseurin Anna Bergmann, ihre Deutung von Strindbergs - auch vielfach verfilmtem - Werk aus dem Jahr 1888 bei der Premiere am Dienstagabend etwas Neues abzugewinnen. In ihrem Fall ist es die Umkehrung des Altersverhältnisses der Protagonisten.
Aus der ursprünglich jungen Adeligen Julie, die aus ihren standesgemäßen Konventionen auszubrechen versucht, wird eine abgebrühte, männerhassende und latent wahnsinnige alte Furie, die sich den knackigen, aber durchaus durchtriebenen Diener Jean schnappt, um sich zu belustigen. Sona MacDonald gibt die mit roter Perücke bestückte und von zahlreichen Selbstverstümmelungen gezeichnete Julie mit einer bewundernswerten Mischung aus Borderline-Syndrom und nüchterner Abgeklärtheit und lässt Florian Teichtmeister als hyperaktiven Testosteron-Junkie Jean zwar in sich rein aber niemals an sich ran.
(APA)

Regie
Anna Bergmann

Bühnenbild
Katharina Faltner

Kostüme
Lane Schäfer

Musik
Hannes Gwisdek

Choreographie
Jerome Knols

Dramaturgie
Ulrike Zemme

Licht
Manfred Grohs

Dramaturgieassistenz
Cinja Kahl

Fräulein Julie
Sona MacDonald

Jean
Florian Teichtmeister

Kristine
Bea Brocks

Vogel
Jan Plewka