Premiere: 15.10.2015
Michael Frayn
Der nackte Wahnsinn
ca. 2 Stunden, 15 Minuten, eine Pause
Deutsch von Ursula Lyn
Macht euch keine Sorgen. Betrachtet die Premiere als Generalprobe. Wir lassen es jetzt einmal durchlaufen und konzentrieren uns auf die Türen und die Sardinen. Auftritte, Abgänge. Sardinen rein, Sardinen raus. Das ist Farce. Das ist Theater. Das ist Leben.
Lloyd Dallas
Wie laufen Theaterproben ab? Was passiert während einer Vorstellung hinter der Bühne? Wie unterscheidet sich eine letzte von einer ersten Vorstellung? Der nackte Wahnsinn begleitet eine Theatertruppe in einem furiosen Klippklapp dreimal durch den ersten Akt: Die Generalprobe, eine reguläre Vorstellung und die letzte Vorstellung.
Jeder neue erste Akt wirkt wie die größte anzunehmende Katastrophe, aber das Ensemble beweist sich und den Zuschauern, dass es immer noch schlimmer geht: Vierzehn Tage Probenzeit sind für Regisseur Lloyd Dallas und seine Schauspieler ohnehin schon wenig um das Stück "Nackte Tatsachen" einzustudieren, in dem es auf nichts so sehr ankommt wie aufs Timing. Wenn aber zur knappen Probenzeit eine vergessliche Hauptdarstellerin, der liebestolle Regisseur und seine Affären, Eifersüchteleien im neurotischen Ensemble, ein nicht funktionierendes Bühnenbild und ein Teller Sardinen dazukommt, dann ist das Desaster vorprogrammiert.
Eine Farce muss in unmittelbarer Wahrhaftigkeit verankert sein. Verzweiflung darf die Charaktere zwar schlussendlich in die absurdesten und unmöglichsten Situationen bringen, doch diese Verzweiflung ist zunächst einmal herbeizuführen. Die Ursache muss in der möglichen Gefahr einer Verlegenheit liegen, die dem Publikum so vertraut ist, dass es vor lauter Mitgefühl schweißnasse Hände hat.
Michael Frayn
Michael Frayns Farce beginnt damit, dass der Zuschauer einer zum Brüllen komischen Stellprobe beiwohnt. Nichts klappt in den Wiener Kammerspielen. Die Türen klemmen, ein Teller Sardinen wird nicht ordnungsgemäß abgeräumt. Beinahe alle Mimen verpassen ihre Einsätze. Am versammelten Personal nagt mit furchtbarer Gewalt der Zahn der Zeit. Leider ist die Stell- bereits die Generalprobe. Von nun an kann alles nur noch schlimmer werden. Aber Götter üben nicht. Sie erschaffen und überlassen die Schöpfung sich selbst.
Das ärmste Schwein ist unter diesem Gesichtspunkt der Regisseur (Michael von Au). Arm ist er, weil er wie Gottvater auf ein vollkommen verpfuschtes Werk hinabblickt. Für ein Schwein hat er zu gelten, weil er die brave Regieassistentin beglückt, obwohl er den wandelnden Blondinenwitz der Truppe (Alma Hasun) viel heißer begehrt. Arm ist der (echte) Schauspieler von Au, weil er die Premiere mit gebrochenem Mittelfußknochen spielen musste. Er tat dies vorzüglich.
Als "Regisseur" ist Mister Lloyd Dallas ein enger Verwandter von George Taboris "Mr. Jay" aus den Goldberg-Variationen. Er blickt vom ersten Rang auf eine Bühne, die zu ebener Erde und im ersten Stock wie ein blau verschossener Gobelin aussieht (Ausstattung: Stephan Dietrich).
Wir bitten vor den Vorhang: Miss Dotty Otley (Ulli Maier), die im Stück im Stück eine überforderte Haushaltshilfe geben muss, eine verblühte Majestät. Ihr in nichts nach steht der Erste Liebhaber Garry Lejeune (Alexander Pschill). Er soll die mitgebrachte Blondine vernaschen und obendrein die jeweilige Tür zum richtigen Zeitpunkt auf- und zuschlagen. Ein Ding der Unmöglichkeit.
Die Truppe gebietet weiters über ein Paar in den besten Jahren (Ruth Brauer-Kvam, Oliver Huether), das seinen zweiten Frühling erotisch zu feiern wünscht. Und dann gibt es noch einen gaumigen Alkoholiker (Heribert Sasse), der als bestrumpfter Einbrecher in das Irrenhaus einsteigt. Nicht zu vergessen den traurigsten Inspizienten (Martin Niedermair), den die Welt je gesehen hat.
Für sie alle gibt es kein Entrinnen aus der Schöpfungszentrifuge. In der Probe werden sie zerrüttet. In einer der nächsten Vorstellungen wird uns ein Blick auf die Hinterbühne gegönnt: Das Stück im Stück geht elendiglich vor die Hunde. In einem aussichtslosen letzten Versuch haben die Mächte der Finsternis und der Dummheit den nackten Wahnsinn endgültig zu Schrott zermahlen.
Regisseur Folke Braband ist hier die oberste Gottesinstanz. Ihm ist ein kleines, feines, bitterböses Schöpfungswerk gelungen.
(Der Standard)
Von Au spielte - mit Anmut und eingeschientem Bein - den Regisseur, der mit viel zu wenig Probenzeit und einem exzentrischen bis völlig talentlosen Ensemble eine Boulevardkomödie inszenieren soll. Der erste Akt zeigt die Generalprobe: Der Text sitzt nicht, die Theaterdiva Dotty Otley (Ulli Maier) kann sich nicht merken, was sie wann aufheben und wieder hinstellen soll, auch das Bühnenbild hat ein paar Schrauben locker. Dieses wird für den zweiten Akt dann um 180 Grad gedreht, wir sehen hinter die Kulissen, wo während der Vorstellung zwischen den Schauspielern ein Kleinkrieg im Flüsterton ausbricht, verursacht durch Affären und Arroganz, Eifer- und Trunksucht. Der dritte Akt zeigt schließlich die finale Tourneevorstellung, wieder aus der Publikumsperspektive. Sie gerät zum Fiasko.
Folke Brabands Inszenierung steigert sich nach der Pause zu einem rasanten Spiel voller Slapstickeinlagen und exakt getakteter Pointen - da fliegen die Türen, Sardinen, Kakteen, Äxte. Die Darsteller machen ihre Sachte gut, möglichst schlechte Darsteller zu spielen. Alma Hasun gibt das blonde Dummchen Brooke, das bei jedem seiner Sätze mechanisch die Arme in die Luft reißt. Alexander Pschill überzeugt als hitziger Mime Garry. Heribert Sasse gibt den Trinker Selsdon mit verschmitztem Grinsen, Eva Mayer entzückt als neurotische Regieassistentin Poppy.
Dass die Figuren maßlos überzeichnet sind, schadet dem Stück nicht, wird hier doch der Theaterbetrieb mit all seinen archetypischen Protagonisten karikiert: der liebestolle Regisseur, die Diva, der reizbare Star und die Helfer hinter der Bühne, die den Abend zu retten versuchen. Es sind dieser (vermeintliche) Blick hinter die Kulissen und die Freude an der Eskalation, die das Stück von Michael Frayn so reizvoll machen.
(Die Presse)
Folke Braband als Regisseur zieht auch diesmal, wie schon in seinen früheren Inszenierungen an den Kammerspielen, mit einem bestens aufeinander eingespielten Ensemble alle Register eines Lachtheaters, in dem die Figuren des Stückes zum Vergnügen des Publikums mit vorhersehbarer Wahrscheinlichkeit in immer unwahrscheinlichere Situationen geraten.
Nützt doch Frayn in seiner den Theateralltag satirisch überzeichnenden Backstage-Farce einen alten Feydeau-Trick: Da treffen in dem gerade einstudierten Stück in einem noblen Landhaus durch Zufall Leute aufeinander, die sich voneinander zu verbergen versuchen und dabei hinter eine der zahlreichen Türen zu ebener Erde oder im ersten Stock (Bühne: Stephan Dietrich) flüchten - was naturgemäß zu ständigem Türenknallen, unvermuteten Begegnungen, absurden Erklärungen, verschwundenen und wieder auftauchenden Gegenständen und Kleidungsstücken bis hin zur Unterhosen-Komik führt. Dazu kommt noch, dass das Zusammenspiel der Truppe allmählich durch private Beziehungskrisen beeinträchtigt wird.
Angesichts seiner grandios outrierenden und überkandidelt kostümierten Künstlerschar schwankt Michael von Au als vielbeschäftigter Provinzregisseur schon bei der Generalprobe der "Nackten Tatsachen" zwischen Souveränität und resignativer Verzweiflung. Sein Star (Ulli Maier) in der Rolle einer überforderten Haushälterin versagt im Kampf mit den Requisiten, andere stören das für die Überraschungseffekte nötige Timing durch verfrühte oder verspätete Auftritte. Im Ensemble, das in Attitüden, Gesten und Mimik in köstlich karikierten Boulevard-Typen paradiert, begeistert vor allem Ruth Brauer-Kvam in Pseudo-Grande-Dame Pose als Gattin des Haus-besitzers (Oliver Huether) und überdies durch ihr - das Chaos noch steigernde - Bemühen, Pannen im Spiel unauffällig zu vertuschen.
Die Hoffnungen von Alexander Pschill als sich weltmännisch gebender Angestellter einer Makler-Firma auf ein flottes Abendteuer mit einer puppenhaft attraktiven Zufallsbekanntschaft (Alma Hasun) gehen naturgemäß nicht auf, als schließlich noch ein tapsiger Einbrecher (Heribert Sasse) für weitere Verwirrung sorgt. Und Martin Niedermair ist als Inspizient, der für so gut wie alles verantwortlich ist, heillos überfordert.
Nach der Pause folgt die zweite, aus der Backstage-Perspektive gezeigte Version des ersten Aktes während einer Tournée-Vorstellung, bei der sich überdies die Vorliebe des Regisseurs für junge Mitarbeiterinnen herausstellt. Und in der letzten Aufführung gerät nicht nur der Text durcheinander, sondern auch Requisiten nehmen ein bedrohliches Eigenleben an.
Freilich könnte man den in seiner Art vom ersten bis zum letzten Moment geglückten Abend auch als bitterböse Metapher auf das zeitgenössische Theater sehen. Vordergründig aber bietet er zweieinhalb Stunden unbeschwerter Heiterkeit und endete mit anhaltendem Applaus.
(Wiener Zeitung)
Das ist die Königsklasse des Klipp-Klapp-Theaters, und das Ensemble der Kammerspiele geht eindeutig als Sieger in dieser Disziplin hervor. Regisseur Folke Braband hat ganze Arbeit geleistet, dies zum Thema Disziplin in dieser Disziplin, denn das Timing stimmt auf den Punkt, die Pointen sitzen, das Tempo ist atemberaubend hoch.
(Mottingers Meinung)
In den Wiener Kammerspielen, wo Folke Braband das Theater mit dem Theater flott und ohne Scheu vor Slapstick und Klamauk in Szene gesetzt hat, wo sich in Stephan Dietrichs drehbaren Bühnen-Bühnenbild die Narren ein vergnügliches Stelldichein geben.(...)So einfach ist das, so lustig ist das.
(KURIER)
Regie
Folke Braband
Bühnenbild und Kostüme
Stephan Dietrich
Dramaturgie
Silke Ofner
Licht
Franz Henmüller
Dotty Otley als Mrs Clackett
Ulli Maier
Garry Lejeune als Roger Tramplemain
Alexander Pschill
Brooke Ashton als Vicki
Alma Hasun
Frederick Fellowes als Philip Brent/Scheich
Oliver Huether
Belinda Blair als Flavia Brent
Ruth Brauer-Kvam
Selsdon Mowbray als Einbrecher
Heribert Sasse
Lloyd Dallas, Regisseur
Michael von Au
/ Peter Scholz
Poppy Norton-Taylor, Regieassistentin
Eva Mayer
Tim Allgood, Inspizient
Martin Niedermair